Funktionelle Wiederherstellung: Tun wir das Richtige zur Behandlung von Depression?

Eine schwere depressive Störung (Major Depressive Disease; MDD) ist durch ein breites Spektrum affektiver, physischer und kognitiver Symptome gekennzeichnet. Insbesondere die kognitiven Symptome beeinträchtigen die psychosoziale und berufliche Funktionsfähigkeit. Experten aus Australien, Belgien, China und den USA befürworteten vor einem großen Auditorium auf dem ECNP 2018 eine gemeinsame Entscheidungsfindung und personalisierte Zielsetzung, um eine vollständige symptomatische und funktionelle Remission (Recovery) zu erzielen. Eine gemeinsame Entscheidungsfindung ermöglicht die Personalisierung von Behandlungszielen, um die für den einzelnen Patienten spezifischen funktionellen Beeinträchtigungen anzugehen. Die für den Patienten besonders wichtigen Outcomeparameter müssen mithilfe teilweise neuer Beurteilungsskalen gemessen werden. Entsprechend angepasst und eingesetzt, werden damit erstmals alle Symptombereiche und funktionellen Endpunkte der Depression evaluiert. 

Die kognitive Genesung ist wichtig für die funktionelle Wiederherstellung

Die funktionelle Wiederherstellung nach einer MDD begünstigt den psychosozialen Funktionsstatus sowie die Tätigkeit am Arbeitsplatz, erklärte Prof. Yanling He, Shanghai, China. Die Behandlungsstrategien müssen daher auch kognitive Symptome adressieren, um diejenigen Symptome erfolgreich zu behandeln, welche mit dem Funktionsstatus im Alltag assoziiert sind.

Prof. He hob eine Studie hervor, in der 52% von 164 Patienten mit MDD berichteten, dass sich ihre kognitiven Beeinträchtigungen sehr nachteilig auf ihre berufliche Funktionsfähigkeit auswirken.1 Kognitive Beeinträchtigungen der Exekutivfunktionen und der Aufmerksamkeit halten auch dann an, wenn die affektiven Symptome der MDD bereits abgeklungen sind,2 fügte sie hinzu.

Fast 70% der Patienten mit MDD leiden unter schweren funktionellen Beeinträchtigungen

Prof. He präsentierte außerdem eine Studie mit 1051 in Vollzeit berufstätigen Personen mit MDD, die eine signifikante Assoziation zwischen der zunehmender Schwere der depressiven Symptomatik und der Verschlechterung der kognitiven Funktion, gemessen mit dem PDQ-Fragebogen (Perceived Deficits Questionnaire; p < 0.0001) aufzeigte.3

Darüber hinaus wurde gezeigt, dass subjektive Messungen kognitiver Beeinträchtigungen die Leistungsschwankungen am Arbeitsplatz eher erklärten als der Schweregrad der MDD, so Prof. He.4

Funktionelle Beeinträchtigung bleibt trotz Behandlung oft bestehen

Zum Zeitpunkt der Diagnose leiden fast 70% der Patienten mit MDD unter einer schweren funktionellen Beeinträchtigung,5 so Prof. Bernhard Baune, Melbourne, Australien. Auch nach erfolgreicher Behandlung der affektiven Symptome erleben viele Patienten weiterhin funktionelle Beeinträchtigungen am Arbeitsplatz6 und im sozialen Umfeld.7 Ein besserer funktioneller Outcome gehört daher zu den prioritären Behandlungszielen.

Viele Patienten erleben weiterhin funktionelle Beeinträchtigungen trotz Behandlung

Die negativen Effekte der akuten MDD auf den psychosozialen und funktionellen Outcome werden durch Beeinträchtigungen der räumlichen Wahrnehmung und der Exekutivfunktionen herbeigeführt,8 fügte Prof. Baune hinzu. In der Adelaide Cognitive Function and Mood Study waren Exekutivfunktionen die stärksten unabhängigen Prädiktoren des psychosozialen Outcomes bei remittierten Patienten.9

Ärzte übersehen häufig die Bedeutung kognitiver Symptome

Die Erwartungen, die Ärzte an eine Depressionsbehandlung haben, stimmen häufig nicht mit denen ihrer Patienten überein. Prof. Baune stellte die Ergebnisse einer Online-Umfrage unter 650 Psychiatern, 366 Ärzten in der Primärversorgung, 30 Neurologen und 2008 Patienten mit MDD aus Brasilien, Frankreich, Italien, Kanada, Mexiko, Spanien, Südkorea und den USA vor.

Ärzte und Patienten haben nicht die gleichen Erwartungen an eine Behandlung

Die Studie zeigte, dass Ärzte im Vergleich zu ihren Patienten der Behandlung physischer und kognitiver Symptome eine geringere Bedeutung zumaßen. Der größte Unterschied bestand dabei bei kognitiven Symptomen während der akuten Phase der MDD.10

Stellen wir Patienten mit Depression die richtigen Fragen?

Die meisten Psychiater messen das Ergebnis der Behandlung ihrer depressiven Patienten nicht, sagte Prof. Koen Demyttenaere, University Psychiatric Center KU Leuven, Belgien. Wenn wir das Ergebnis messen, messen wir dann das, was für den Patienten wichtig ist? So berücksichtigte etwa eine von Prof. Baune beschriebene Studie nicht, dass sich 55% der 274 Patienten, die ≤ 7 Punkte auf der Hamilton-Skala (HAM-D17) erreichten – die nicht zur Messung kognitiver Symptome ausgelegt ist – nicht als in Remission befindlich betrachteten.11

Welche Skalen sollten wir verwenden? Und sollten diese subjektiv oder objektiv sein?

Prof. Demyttenaere diskutierte die Notwendigkeit der Messung des Outcomes unter Verwendung von Skalen, welche die kognitive Funktionsfähigkeit beurteilen, darunter:

  • der Fragebogen Perceived Deficits Questionnaire mit 20 bzw. 5 Fragen (PDQ-20 bzw. PDQ-5), ein subjektiver Fragebogen, der vom Patienten ausgefüllt wird
  • der Digit Symbol Substitution Test (DSST)
  • THINC-it

Sowohl der DSST als auch THINC-it bieten eine objektive Beurteilung aller vier Bereiche kognitiver Funktionsfähigkeit – Exekutivfunktionen, psychomotorische Geschwindigkeit, Aufmerksamkeit und Gedächtnisfunktion.

Wenn wir nicht die richtigen Fragen stellen, was können wir besser machen und wie können wir eine funktionelle Wiederherstellung erzielen?

Eine Recovery bei Patienten mit MDD sollte sowohl eine symptomatische als auch eine funktionelle Remission umfassen, die in gemeinsamer Entscheidungsfindung angestrebt wird, sagte Prof. Baune. Die Behandlungsziele hängen ab von:

  • der Krankheitsphase - alle drei Symptombereiche (Affektstatus, physische und kognitive Symptome) müssen in allen Phasen (akut, postakut und in Remission) therapeutisch adressiert werden
  • den individuellen Bedürfnissen des Patienten

Prof. Mark Opler, New York, USA, stimmte diesem Konzept zu und befürwortete eine gemeinsamen Entscheidungsfindung, welche:

  • die Heterogenität der MDD und von Patienten mit MDD anerkennt
  • über die Einbindung von Patienten in Entscheidungen eine Personalisierung von Behandlungszielen ermöglicht

Gemeinsame Entscheidungsfindung und Zielsetzung sowie Messung des Outcomes erleichtern die funktionelle Wiederherstellung

Prof. Opler beschrieb einen konzeptuellen Ansatz, wie dieses Ziel erreichbar ist. Für eine erfolgreiche antidepressive Behandlung ist es wichtig, das Erreichen der gemeinsam beschlossenen Therapieziele als Teile des Behandlungsplans kontinuierlich zu überprüfen. Die Ziele der Behandlung der verschiedenen Symptomfacetten der MDD – psychologisch, emotional, physisch, und kognitiv – werden in einer gemeinschaftlichen Diskussion entwickelt – je nachdem, wie der Patient „seine“ MDD und die damit verbundenen Symptome erlebt und wie sich diese Erfahrungen auf sein Leben auswirken.

Danach ist es wichtig, die Outcomeparameter zu messen, die dem Patienten wichtig sind, und dabei Skalen zu verwenden, die alle Symptombereiche und die funktionelle Leistungsfähigkeit umfassen.

 

Dieses Symposium wurde mit finanzieller Beteiligung von H. Lundbeck A/S ermöglicht.

References

  1. Lam RW, et al. Which depressive symptoms and medication side effects are perceived by patients as interfering most with occupational functioning? Depress Res Treat 2012;2012:630206.
  2. Rock PL, et al. Cognitive impairment in depression: a systematic review and meta-analysis. Psychol Med 2014;44(10):2029-40.
  3. Lawrence C, et al. Association between severity of depression and self-perceived cognitive difficulties among full-time employees. Prim Care Companion CNS Disord 2013;15(3):PCC.12m01469.
  4. McIntyre RS, et al. The impact of cognitive impairment on perceived workforce performance: results from the International Mood Disorders Collaborative Project. Compr Psychiatry 2015;56:279–82.
  5. Fried EI, Nesse RM. The impact of individual depressive symptoms on impairment of psychosocial functioning. PLoS One 2014;9(2):e90311.
  6. Lerner D, Henke RM. What does research tell us about depression, job performance, and work productivity? J Occup Environ Med 2008;50(4):401–10.
  7. Jaeger J, et al. Neurocognitive deficits and disability in major depressive disorder. Psychiatry Res 2006;145(1):39–48.
  8. Knight MJ, Baune BT. Cognitive dysfunction in major depressive disorder. Curr Opin Psychiatry, 2018;31(1):26-31.
  9. Knight MJ, Baune BT. The role of cognitive impairment in psychosocial functioning in remitted depression. J Affect Disord, 2018;235(129-134).
  10. Baune BT. Major Depressive Disorder – Understanding the Patient Journey. Poster presented at ECNP. P018. 2018
  11. Zimmerman M, et al. Why do some depressed outpatients who are in remission according to the Hamilton Depression Rating Scale not consider themselves to be in remission? J Clin Psychiatry. 2012;73(6):790–95.